Kunstgeschichten

Entdecken Sie in der Rubrik Kunstgeschichten abwechslungsreiche Essays zu verschiedensten Kunstwerken aus unseren umfangreichen Sammlungsbeständen.

Im Freien

Lorenzo Lotto, Maria mit dem Kind und Hll. Katharina und Jakobus d. Ä., 1527/1533, Inv.-Nr. GG 101

 

Könnt ihr euch diesen idyllischen Platz in freier Natur für einen Moment noch ohne Menschen vorstellen?

Satte, grüne Landschaft, Berge und Seen, stellenweise aber karger Boden, dann weite Sonneninseln und ein etwas regenverhangener Himmel. Auf meinem Weg zu der hier dargestellten heiligen Versammlung kam ich an einem Baum mit dichter Krone und festem Stamm vorbei - entdeckte daneben einen Baumstumpf mit einer glatten, von Menschenhand geschaffenen Oberfläche.

Hier ließ ich mich nieder.

In strahlendes Blau gekleidet, vor Sonne und Regen gleichermaßen geschützt, setzte ich meinen Sohn auf jenen natürlichen Thron, nicht ohne seine zarte Haut mit einem Teil meines Gewandes vor kleinen Splittern und rauer Rinde zu schützen.

Katharina und Jakobus kamen bald hinzu – oder waren sie schon vorher da und ich habe die Geschichte der Entdeckung dieses einsamen, wunderschönen Fleckchens Erde anders in Erinnerung? Das muss offen bleiben – Lorenzo, mein irdischer Schöpfer, hat es nie aufgeklärt.

Jakobus, einer der zwölf Apostel und Bruder des „Lieblingsjüngers“ Johannes, kniet und wirkt doch in unsere Richtung gelehnt, er entspannt sich nicht sondern erweist meinem Sohn die Ehre. Seine Hände sind zum Gebet bereit, sein Blick auf Jesus gerichtet.

Sein Pilgerstab bringt Stabilität und Ruhe in unser Zusammensein.

Katharina, mit Buch und einem Teil ihres Folterrades – sie hat es vielsagend an den Baumstammthron Jesu gelehnt – blickt stumm zurück, auf die Hände des neben ihr knienden Heiligenkollegen. Aber sie spürt die Hand meines Kindes, auf den Seiten ihres Buches.  

Apropos Buch: heute stelle ich mal eine grundsätzliche Frage:

Warum bin ich ein Gemälde und kein Text?

Meine Antwort: man kann mich sehen, (mit ein wenig Phantasie) auch hören und fühlen, man kann gleichzeitig in mir lesen, mit mir reden, mir widersprechen, mich unendlich lang anschauen, mich mal ansprechend und am nächsten Tag sehr langweilig finden, man kann zu mir pilgern und mich bei nächster Gelegenheit heimlich ignorieren. Nicht dass ich mir solcherart Wechselbäder wünschen würde … aber sie bleiben ungestraft. Und ich unverändert.

Der herbeigeflogene Engel krönt die heutige Szene – elegant und tänzerisch. Unser aller Mimik ist ruhig und sanft – doch unsere Gewänder sind aufgewühlt, bunt und differenziert.

geschrieben von Cäcilia Bischoff am 14.8.2017 in #Ich bin Maria
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