Kunstgeschichten

Entdecken Sie in der Rubrik Kunstgeschichten abwechslungsreiche Essays zu verschiedensten Kunstwerken aus unseren umfangreichen Sammlungsbeständen.

Größendiversität oder: Auf die Perspektive kommt es an

Riesen und Zwerge sind uns aus Mythen, Sagen und Märchen bekannt. Und wenngleich ihnen in diesen Geschichten meist das Fremde, Übernatürliche und Zauberhafte anhaftet, sind diese häufig von den Biografien realer Personen mit Groß- oder Kleinwuchs inspiriert.

Abb. 1: Nach Giambologna, Der Hofzwerg Morgante, Florenz (?), 4. Viertel des 16. Jahrhunderts. Kunsthistorisches Museum Wien, Kunstkammer, Inv. Nr. KK 10001.

Die Faszination für körperliche Größendiversität reicht zurück bis in die römische Antike, wo etwa kleinwüchsige Menschen mit Kleinwuchs nicht nur im Gefolge der Oberschicht, sondern auch als „Prestigeobjekte“ zum Umfeld der Mächtigen zählten. Die überwiegende Mehrheit von groß- und kleingewachsenen Menschen fristeten jedoch über die Jahrhunderte am Rande der Gesellschaft ihr Dasein. Manche nutzten ihre körperliche Eigenheit zur Finanzierung ihres Lebensunterhalts, indem sie sich auf Jahrmärkten und Messen präsentierten. Wenigen gelang es, aufgrund ihrer besonderen Eigenschaften in die Gesellschaft der Oberschicht, an einen fürstlichen oder königlichen Hof, geholt zu werden.

Selten sind persönliche Informationen überliefert, denn nur wenigen war es vergönnt, eine gewisse Berühmtheit zu erlangen: etwa dem Hofzwerg Cosimo de’ Medicis (Abb. 1), Morgante, dem Hofzwerg Erzherzog Ferdinands II., Thomele, dem aus dem Umkreis Erzherzog Maximilians II. stammenden Riesen Bartolomeo Bona, dem Großgewachsenen Anton Frank, der als Trabant am Hofe von Braunschweig tätig war (Abb. 2), oder dem als fahrenden Künstler agierenden Riesen Bernardo Gigli und dem kleinwüchsigen Józef Boruwlaski aus Polen.

Abb. 2: Der Riese Anton Frank mit Zwerg Thomele, Deutsch (Tirol?), nach 1583. Kunsthistorisches Museum Wien, Gemäldegalerie, Inv. Nr. GG 8299.

Das Verständnis der augenscheinlichen Andersartigkeit der Körpergröße – im mittelalterlichen Denken und volkstümlichen Aberglauben zuweilen als tierische Abnormität und Ausgeburt des Teufels gedeutet – wandelte sich im Zuge des Renaissance-Humanismus. Abweichendes, Seltsames und Eigenartiges war nicht mehr ein Resultat menschlicher Sünde oder eine Strafe Gottes, sondern galt als Teil der Schöpfung und Gottes Plan. Obwohl Neugierde und Voyeurismus weiterhin eine Rolle spielten, befeuerten Rationalismus und Empirismus die Naturwissenschaften, die den menschlichen Körper nun nach medizinischen Regeln beobachteten und studierten.  

Vom Spätmittelalter bis zum Ende des 18. Jahrhunderts blühte das „Hofzwergewesen“, das sehr eng mit dem Narrenwesen verwoben war. Folglich wurden Menschen mit Kleinwuchs zum Must-have eines jeden glänzenden Fürstenhofes. Ein Zentrum war neben den oberitalienischen Höfen von Mantua, Ferrara und Florenz der spanische Königshof, wo zwischen 1550 und 1700 rund 69 Hofzwerge lebten. Sie dienten dort als Diener*innen oder als Tierwärter*innen, waren begehrte Spielgefährt*innen der adeligen Kinder und agierten im höfischen Bereich. Größe ist also immer auch eine Frage der Perspektive: zwar klein von körperlicher Statur, dennoch groß gefragt und begehrt.

Von geringerer Zahl waren überdurchschnittlich groß gewachsene Menschen. Auch hier spielt wieder die Perspektive eine Rolle: Fällt eine Körpergröße von über 1,70 m bei Erwachsenen heutzutage nicht weiter auf, hätte man in der frühen Neuzeit damit jeden und jede um eine Kopflänge überragt. Die imposanten männlichen Erscheinungen erhielten vorwiegend im militärischen Bereich eine Anstellung, etwa als Späher oder fürstliche Leibwächter. Legendär waren die sogenannten Langen Kerle, die mit ihrer Größe von mindestens 1,88 m dem preußischen König seit 1710 als Elitegarde dienten. Großgewachsene Frauen waren eine Ausnahme, sind aber an einigen Fürstenhöfen innerhalb des Hofstaates ebenfalls nachweisbar. Künstliche Riesen, also wagemutige Stelzengeher, kamen übrigens seit der griechischen Antike ebenfalls im militärischen Umfeld zum Einsatz. Ihre akrobatischen Künste waren auch gern gesehene Showeinlagen bürgerlicher sowie höfischer Feste.  

Ihre körperliche Diversität machte Menschen mit Groß- und Kleinwuchs in den Augen anderer zu „Wundern der Natur“ – eine Etikettierung, die sich endgültig mit Darstellungen auf Flugblättern und Abbildungen in naturwissenschaftlichen Nachschlagewerken zementierte. Auch in fürstlichen Kunstkammern und gelehrten Naturaliensammlungen des 16. und 17. Jahrhunderts, worin das Wissen um die damals bekannte Welt im Kleinen zusammengefasst wurde, waren sie präsent. So verwundert es nicht, wenn in der Ambraser Kunstkammer Erzherzog Ferdinands II. neben vermeintlichen Riesenknochen, Druckwerke und Relikte aus dem Besitz von Riesen oder Zwergen Anekdoten über ihr turbulentes Dasein erzählten. Um die körperliche Diversität zu vergegenwärtigen, waren lebensechte und lebensgroße Bildnisse unerlässlich. Den Status und das Prestige der Groß- und Kleinwüchsigen unterstreicht zusätzlich die Tatsache, dass sie von den berühmtesten Künstlern ihrer Zeit, wie Giambologna oder den Malern Alonso Sánchez Coello, Anthonis Mor und Diego Velázquez, für die Nachwelt verewigt wurden.

geschrieben von Thomas Kuster am 10.2.2022 in #Vielfalt im Fokus
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