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Der Turmbau zu Babel

Ursprung und Vielfalt von Sprache und Schrift

Die vom Kunsthistorischen Museum Wien für die Europäische Kulturhauptstadt Graz 2003 konzipierte und realisierte Großausstellung geht der Frage nach dem Ursprung und der Vielfalt von Sprache und Schrift nach. Ausgangspunkt dafür ist der biblische Mythos des "Turms zu Babel", der für die Sprachverwirrung und Zerstreuung der Menschheit steht.

Als Gegenpol dazu fungiert das Sprachenwunder des christlichen Pfingstfestes, das in der Schloßkirche von Eggenberg mit einer Raum-Klang-Installation von collettiva media und einem prächtigen Gemälde des spanischen Malers Juan Bautista Maino aus dem Prado, eindrucksvoll vertreten ist.

Die Ausstellung ist in drei Bereiche gegliedert, für die der Turmbau und das Pfingstwunder eine konzeptionelle Klammer bilden.

Der erste, archäologisch und kunsthistorisch ausgerichtete Teil ist zur Gänze der Geschichte der Darstellungen des Turmbaus zu Babel beziehungsweise seiner archäologischen und historischen Überlieferung und Rekonstruktion gewidmet. Der kunsthistorische Überblick beginnt mit den frühesten Darstellungen des Turmbaus etwa in der Millstätter Genesis aus dem 12. Jahrhundert und spannt einen weiten Bogen von mittelalterlichen Handschriften, Zeichnungen, Radierungen und Gemälden etwa eines "Turms zu Babel" von Pieter Breughel d. J. aus Privatbesitz oder Gemälden von Lucas van Valckenborch bis hin zur zeitgenössischen Turm-Installation "Babel. TV" von Patrick Mimran.

Der archäologische Teil ist ganz der wissenschaftlichen Erforschung und Rekonstruktion babylonischer Stufentürme gewidmet. Besonderes Augenmerk ist der einzigen österreichischen Grabung (Universität Innsbruck) im heutigen Irak, dem ehemaligen Mesopotamien, gewidmet, deren Untersuchungen an der Ziqqurrat von Borsippa zu zahlreichen neuen Erkenntnissen bezüglich der Architektur und Funktion der Stufentürme führten.

Die Entstehung, Entwicklung und Vielfalt der sprachlichen und schriftlichen Kommunikation bilden den zweiten und dritten Ausstellungsbereich. Die globale Sprachenvielfalt der Welt und ihre Ursprünge werden durch akustische und graphische Installationen veranschaulicht. Ein großer Globus macht die Sprachenvielfalt der Welt in über hundert Hörbeispielen (aus dem Phonogrammarchiv) erfahrbar.

Christian Möller entwickelte eine interaktive Klanginstallation im Innenhof von Schloß Eggenberg, einen "Sprachenwald" mit 37 berührungssensitiven Stahlstangen, die jeweils einer über Satellit eingespielten Sprache der Welt zugeordnet sind.

Sprachentstehungstheorien sind ebenso mit in das Konzept einbezogen wie die Darstellung der anthropologischen Voraussetzungen des Sprechens oder der Spracherwerb des Kindes.

Neurologische Voraussetzungen des Sprechens, aber auch Fragen der Phonetik und Psychoakustik werden behandelt. Ein modernes Verfahren zur Visualisierung von Sprachsignalen ist das sogenannte Spektrogramm: der Besucher ist eingeladen in ein Mikrophon zu sprechen und seine Stimme sichtbar werden zu lassen. Am Beispiel der "Tanzsprache" der Bienen wird exemplarisch auf die Kommunikation innerhalb der Tierwelt hingewiesen.

Historische und aktuelle Diskussionen zu sprachwissenschaftlichen Modellen, zur Frage einer Ursprache, Zusammenhänge von Sprache und Gesellschaft, Identität und Nation sowie Musik und Dichtung werden ebenso dokumentiert, wie die Gebärdensprache und die Plansprachen. Die Probleme bedrohter Sprachen werden durch das Förderprogramm der VolkswagenStiftung aufgezeigt.

Neue Entwicklungen der Sprachtechnologie, wie maschinelle Spracherkennung und Sprachwiedergabe, werden für den Besucher in Zusammenarbeit mit dem Österreichischen Forschungsinstitut für Artificial Intelligence interaktiv erfahrbar gemacht.

Die Entstehung, Erfindung und Verbreitung von Schrift, ihr Ursprungsort und der Zeitpunkt ihres ersten Auftretens gehören zu den spannendsten Fragen der archäologischen Forschung. Die Schrift zählt als das wichtigste Kommunikationsmittel des Menschen neben der Sprache zu den großen kulturimmanenten Leistungen der Menschheitsgeschichte. Die kaum überschaubare Anzahl von Schriftformen, ihre gegenseitige Abhängigkeit und Entwicklung, ihr gesellschaftlich und technologisch bedingter Wandel, ihre Ausdrucksfähigkeit als bildhafte oder abstrakte Zeichensprache, ihre Erfindung und ihre Entzifferung werden an hunderten Objekten in dieser Ausstellung veranschaulicht.

Entdeckungen und Ausgrabungen der letzten zehn Jahre haben neue Erkenntnisse über Ursprung und Struktur der frühesten Schriftzeugnisse Ägyptens gebracht und die Frage nach der Priorität der mesopotamischen Keilschrift einmal mehr zur Diskussion gestellt.
Revolutionär und kontrovers diskutiert wird auch, ob es sich bei den aus dem 5. Jahrtausend v. Chr. stammenden Ritzzeichen der Vinca-Kultur tatsächlich um eine alteuropäische Schrift, die älter als die Keilschrift wäre, handelt.

Breiten Raum nimmt die Darstellung der Entwicklung unseres Alphabets, aber auch außereuropäischer Schriftsysteme wie u.a. der Chinesischen Schrift, Indischer Schriften und Schriftsysteme in Mesoamerika und im Andenraum ein.

Selbstverständlich ist auch die Frage der Entzifferung verschiedener Schriftarten Gegenstand dieser Ausstellung. Während das Rätsel der ägyptischen Hieroglyphen mit Hilfe des Rosetta-Steins bereits im 19. Jahrhundert gelöst wurde, gibt es beispielsweise für die Indus-Schrift oder Linear A noch immer keine eindeutige Entzifferung.

Die Kryptographie, die Quanten-Kryptographie, aber auch die Kabbala und die Blindenschrift runden den Überblick über die Vielfalt der Schrift ab.

Im Schloßpark sind nach Idee und Konzept von Christian Möller und Pete Conolly großformatige Buchstabenskulpturen aufgestellt, die abhängig vom Standpunkt des Besuchers und seiner Blickrichtung entweder abstrakte Tafelgruppen oder lesbare Wörter ergeben.

Die 600 Leihgaben dieser Ausstellung wurden von internationalen Museen und Sammlungen, wie zum Beispiel vom Ägyptischen Museum in Kairo, der Generaldirektion für Antiken und Museen der Arabischen Republik Syrien, dem Archäologischen Nationalmuseum in Teheran, dem Nationalmuseum in Tokio, dem Archäologischen Museum in Zagreb, den Staatlichen Museen zu Berlin, sowie von zahlreichen österreichischen Museen und Sammlungen zur Verfügung gestellt.
Das Ausstellungsprojekt wurde in Zusammenarbeit mit zahlreichen internationalen und österreichischen wissenschaftlichen Institutionen sowie 120 Wissenschaftlern aus der ganzen Welt verwirklicht.

Information

5. April 2003
bis 5. Oktober 2003

Schloß Eggenberg
8020 Graz

 

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